Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Mitglieder der Versöhnungsgemeinde,
vor fast genau 30 Jahren (am 23.8.1990) stimmte das erste frei gewählte Parlament der DDR für den Einigungsvertrag mit der BRD. Eine Woche später wurde er unterschrieben und am 3. Oktober fand dann die staatliche Trennung Deutschlands ein Ende – nach etwas mehr als 40 Jahren.
Im letzten Jahr haben wir uns in der Versöhnungsgemeinde mit den Ereignissen im Jahr davor befasst: der Friedlichen Revolution in der DDR von 1989. In dieser Hauspost und im Gespräch mit Botschafter Hellbach wird es nun um die Deutsche Einheit gehen. Dabei findet ihr heute einen zweigeteilten Beitrag über die Wiedervereinigung der evangelischen Kirchen Deutschlands: im ersten geht es um die geschichtliche Entwicklung im „Großen“ und im zweiten um persönliche Erfahrungen unseres Pastors Johannes Merkel.
Dazu dann noch ein paar LINKs zum Vertiefen und wie immer ein Gebet, ein Vers und ein Spruch.
- Kirchengeschichte: Die Wiedervereinigung Deutschlands und die Vereinigung der evangelischen Kirche
- Tipps zum Klicken, Schauen, Hören
- Am Schluss: ein Gebet, ein Vers und ein Spruch
1. Kirchengeschichte: Die Wiedervereinigung Deutschlands und die Vereinigung der evangelischen Kirche
Teil 1: Die „große Geschichte“
Unter dem Druck des beginnenden „Kalten Krieges“ entstanden in den späten 1940ger Jahren zwei deutsche Staaten: die DDR im Osten und die BRD im Westen. Trotzdem blieben die evangelischen Landeskirchen in beiden Teilen Deutschlands zunächst eng verbunden und gründeten 1948 in Eisenach die EKD als gemeinsames Dach. (EKD = Evangelische Kirche in Deutschland, wobei man auf Deutsch „evangelisch“ sagt und damit das meint, was in Chile mit „lutherisch“ bezeichnet wird. Die „evangelischen Kirchen“ in Deutschland sind also nicht mit den „iglesias evangélicas“ en Chile zu verwechseln!)
Die DDR als ein ihrem Selbstverständnis nach „atheistischer Staat“ übte nicht nur Druck auf die einzelnen ChristInnen aus, sondern auch auf die Kirche als Organisation und auf ihre Verbindungen in den Westen. So wurde es immer schwieriger, die kirchliche Einheit innerhalb der EKD zu leben. Besonders nachdem 1961 die Mauer als unüberwindliche Grenze gebaut worden war. Und nachdem kurz später in der neuen DDR-Verfassung alle Organisationen, die über die Grenzen der DDR hinausgehen, für illegal erklärt wurden.
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Man kam also nicht darum herum, im Osten den Bund der Evangelischen Kirche in der DDR (= BEK) zu gründen. Dieser bekannte sich zwar „zu der besonderen Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland“, aber er entwickelte sich immer eigenständiger. In der Folge entstanden dadurch viele kirchliche Strukturen in beiden Teilen Deutschlands parallel. Aber nichtsdestotrotz gab es kaum einen Bereich, in dem die Einheit der Deutschen über alle Jahrzehnte der staatlichen Trennung hinweg so intensiv gelebt worden wäre wie innerhalb der evangelischen Kirchen. Sei es in offiziellen Texten, bei Treffen von Bischöfen und Leitungspersonen oder in den lebendigen Partnerschaftsbeziehungen vieler Kirchengemeinden, in denen konkret Begegnungen und Austausch stattfanden und Glaube geteilt wurde. Auch muss gesagt werden, dass die Kirchen in der DDR niemals ohne die finanzielle Unterstützung der Glaubensgeschwister im Westen überlebt hätten – der Anteil der Hilfszahlungen erreichte bis zu 40% ihres Haushaltes.
Die Umrisse Deutschlands – vor und nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990.
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Außenstehende mag es nun vielleicht überraschen, dass die Evangelische Kirche dem staatlichen Vereinigungsprozess hinterherhinkte. Erst 1991 stimmten die Kirchenparlamente in Ost und West einer entsprechenden Vereinbarung zu. Waren es aber nicht gerade die evangelischen ChristInnen gewesen, die in der DDR die „Friedliche Revolution“ unterstützt und mitgetragen hatten? Warum verzögerte sich dann die Wiederherstellung der kirchlichen Einheit und war von so vielen Diskussionen begleitet?
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Der Mauerfall als Symbol der Einheit – schon am 9.11.1989.
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Zum einen muss man sagen, dass sich die Kirchen unter den verschiedenen politischen Verhältnissen auch verschieden entwickelt hatten: einer „Minderheitenkirchen im Osten, deren Mitglieder oft Nachteile erlitten hatten“ stand eine „etablierte Volkskirche mit einigen Privilegien“ im Westen gegenüber. Das hat auch das Selbstverständnis vieler Kirchenmitglieder, vieler Synodaler und Bischöfe geprägt. Außerdem gab es gerade innerhalb der kirchlichen DissidentenInnen in der DDR nicht wenige, die der schnellen politischen Wiedervereinigung, die als ein Anschluss der DDR an die BRD gestaltet wurde, kritisch gegenüberstanden. Sie wollten mehr Diskussionen über den Prozess und einen gemeinsamen Neustart, inklusive einer neu auszuhandelnden gesamtdeutschen Verfassung.
Dazu kam es nicht, aber wenigstens innerhalb der evangelischen Kirche wurde intensiver als im staatlichen Bereich darüber diskutiert, wie eine gleichberechtigte Wiedervereinigung aussehen sollte und was beide Seiten voneinander lernen könnten. Dabei gab es im Osten aufgrund der eigenen Geschichte besonders viel Widerstand gegen die im Westen breit etablierte Zusammenarbeit von Kirche und Staat, gerade in den Bereichen Schule (Religionsunterricht) und Armee (Militärseelsorge).
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EKD-Ratsvorsitzender Martin Kruse (“Westen”, links) und Kirchenbundvorsitzender Werner Leich (“Osten”, rechts) 1990.
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Letztlich erfolgte aber die Wiedervereinigung der evangelischen Kirchen ähnlich der staatlichen durch eine Übernahme des „West-Systems“ auf die Bereiche der ehemaligen DDR. Ein Kirchenjurist erklärte sogar, die Gründung der ostdeutschen BEK sei „illegal“ gewesen und die „Reaktivierung der Mitgliedschaft“ der östlichen Landeskirchen innerhalb der EKD sei der einzig mögliche Weg. Wie auch in vielen anderen Bereichen fühlten sich viele Ostdeutsche durch solche Aussagen gekränkt und um ihre Lebensleistung betrogen. Noch heute 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist diese nicht endgültig abgeschlossen. Und wer die aktuell manchmal eigenartige Stimmungslage im Osten verstehen will, sollte gerade auch auf solche und andere Kränkungen schauen.
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Gleichwohl muss man feststellen, dass es innerhalb der Kirchen viel Miteinander und wirklich gute Zusammenarbeit zwischen den ehemals östlichen und westlichen Landeskirchen gibt. Mit der Gründung der „Nordkirche“ kam es 2012 sogar zur Vereinigung mehrerer Landeskirchen aus den früher politisch getrennten Bereichen Deutschlands.
Heute stehen die evangelischen Kirchengemeinden in fast allen Teilen des Landes vor großen Herausforderungen – sie sind „überaltert“ und verlieren in einer auch religiös immer pluraleren Welt ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft. Vielleicht kann es hier gelingen, gerade die Erfahrungen der Kirche im Osten mehr zu nutzen, hat sie es doch schon länger lernen müssen, Minderheit und trotzdem nicht unbedeutend zu sein. Auch wurde über alle Diskussionen und Unterschiede manchmal vergessen, dass die Basis (das Evangelium von Jesus Christus) und die Umsetzung (z.B. in Gottesdienst und Diakonie) des Glaubens in Ost und West schlichtweg die gleichen sind.
Teil 2: Eine „persönliche Annäherung“
Im Frühsommer 1990 war ich 12 Jahre alt. Mein Blick auf das Verhältnis der evangelischen Kirchen in beiden Teilen Deutschlands untereinander ist deswegen aus Kinderaugen. Hier ein paar Erinnerungen, auch aus späteren Erfahrungen:
- Mein Vater verdiente als Pastor wenig, aber bekam auch einen kleinen Zuschuss in „Westgeld“. So konnten wir ab und an im speziell dafür von der DDR eingerichteten Intershop begehrte „Westprodukte“ kaufen. Und einmal bekam ich zum Besuch bei Bekannten einen Schatz zwischen die Socken gelegt: einen großen, blauen 100DM-Schein. Der würde „schwarz getauscht“ viele Ostmark bringen. Die finanzielle Solidarität der Kirchen im Westen, war für die Ost-Pfarrfamilien eine wichtige Hilfe!
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Beide blau und beide mit dem Wert “100”. Trotzdem war der “West-Hunderter” (links) ein Vielfaches des “Ost-Hunderter (rechts) wert.
- Viel realer waren für mich aber die Besuche aus der Partnergemeinde, die alle ein bis zwei Jahre in unserer Kirchengemeinde stattfanden. Da kamen konkrete Menschen mit anderen Verhaltensweisen und Ansichten – als Kind habe ich nicht politisch mit ihnen diskutiert, aber war beeindruckt von dem Müsli-Angebot, welches sie mitbrachten. Und ich wusste, dass meine Eltern sich besonders über die Bücher und Zeitschriften freuten, die im Osten verboten oder zumindest nicht zu kaufen waren. Am interessantestes für mich als Jungen waren aber natürlich die „Westautos“.
- Als ich acht Jahre nach der Deutschen Einheit mein Theologiestudium in Hamburg begann, war mein Opa immer noch beeindruckt, dass ich im „Westen“ studieren würde. Gleich im 1. Semester besuchten wir im Rahmen einer Orientierungsveranstaltung die Bundeswehr-Seelsorge in einem nahen Standort. Dort erzählte man uns, dass der Feind ja früher „nur 60km von hier im Osten“ gestanden habe. Und ich dachte: „und jetzt sitzt er hier bei euch in der Kaserne“.
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Heute gute Normalität: ein “Wessi” kann als Bischof einer Kirche, deren Mitglieder mehrheitlich “Ossis” sind, eingeführt werden (links: Dr. Christian Staeblein in Berlin) und ein “Ossi” als Pfarrer einer Landeskirche im “Westen” (rechts ich bei meiner Ordination).
- Beeindruckend war in Hamburg das Selbstverständnis, mit dem die evangelische Kirche und ihre Vertreter in der „westlichen“ Öffentlichkeit auftraten. Und das breite Spektrum ihres Engagements, das weit über die klassische Gemeinde hinausgeht! Verschiedenste Beratungs- und Hilfsangebote, aber auch in Kultur und Stadtteilarbeit… jemand sagte mir (mit leichter Ironie in der Stimme): „es fehlt nur noch der evangelische Hundezüchter-Verein.“
- Was mich später allerdings am meisten verwunderte, war das scheinbare Auseinanderfallen von Glaube und Engagement. Um es verallgemeinert zu sagen: es gab „die Sozialarbeiter“ / „die Künstler“ / „die politisch Aktiven“ auf der einen Seite und „die Frommen“ auf der anderen. Sprich: die einen haben viel gebetet und die Welt ansonsten weitgehend ignoriert und die anderen haben sich in diversen Aktivitäten verloren und darüber scheinbar vergessen, dass sie „Kirche“ sind.
Manches hier in Chile erinnert mich an meine Kindheit im Osten – z.B., dass die Lutheraner eine kleine, aber feste Gemeinschaft sind. Oder, dass es kaum fest angestellte Personen gibt – viel muss ehrenamtlich organisiert werden und sowohl die einzelnen Gemeinden als auch die Gesamtkirche sind viel fragiler.
Damals wie heute scheint es mir wichtig, sich weder auf der einen noch auf der anderen Seite zu gut einzurichten. Die etablierte Mehrheitskirche kann genauso den Auftrag Jesu verlieren, wie die kleinen Gruppen von „Überzeugten“. Gemeinsam gilt es in jeder Zeit und in jedem Umfeld zu suchen, wozu wir als Kirche gerufen und beauftragt sind. Dabei ist die Kirche und ihre jeweilige Gestalt kein Selbstzweck. Dabei kann man Manches aus der interessanten Geschichte der evangelischen Kirchen in beiden Deutschlands und aus ihrem Weg aufeinanderzu lernen.
2. Tipps zum Klicken, Schauen, Hören
Hier noch ein paar interessante Internet-Links für die, die das Thema „Deutsche Einheit“ und „Wiedervereinigung der evangelischen Kirche in Deutschland“ vertiefen möchten.
Den LINK für unser Zoom-Gespräch mit dem Botschafter der BRD in Chile, Christian Hellbach (am 19. August um 20 Uhr) schicken wir dann kurz vorher über den eMail-Verteiler.
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Das Portal “Deutsche Einheit” der Bundeszentrale für Politische Bildung bietet vielfältige Informationen: HIER klicken.
Ein 40min Video der Deutschen Welle mit historischer Einordnung und Originalaufnahmen findet sich hier: HIER klicken.
Der 14min Radio-Beitrag auf NDR-Info (Rückblick auf den Weg zur Einheit) lohnt zu hören: HIER klicken.
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Ein allgemeinerer Beitrag zur Wiedervereinigung der deutschen Kirchen, auch mit Ausblick auf die katholischen Bistümer: HIER klicken.
Das 13min Radio-Interview zur Situation der Evangelischen Kirche in Ost und West mit dem ehemaligen Bischof Axel Noack: HIER klicken.
3. Am Schluss: ein Gebet, ein Vers und ein Spruch:
Das Gebet:
Gott, wir danken dir für alle Situationen,
in denen es möglich ist, wieder aufeinander zuzugehen!
Paare und Familien.
Bekannte und Menschen mit verschiedener Meinung.
Völker und Feinde.
Wir sind dankbar, dass gute Begegnung wieder möglich werden kann –
gerade wenn es vorher schwierig war,
Konflikte oder Trennung, Missverständnisse oder Entfremdung gab.
Wir bitten dich
für alle Orte, an denen offener Austausch und Versöhnung fehlen,
für alle Menschen, die sich nicht wieder begegnen wollen oder können,
für alle, die es schwer miteinander haben!
Sei du da mit deiner versöhnenden Kraft – im Kleinen wie im Großen.
Amen.
Der Vers:
„Dankt dem HERRN! Denn er ist gut.“ so sollen die sprechen, die der HERR befreit hat.
Er befreite sie aus Gewalt und Unterdrückung. Er sammelte sie aus aller Herren Länder:
aus dem Osten und aus dem Westen.
(Psalm 107,1-3)
Der Spruch:
„Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“
(Bärbel Bohley, ehemalige DDR-Oppositionelle, bringt eine der Enttäuschungen über den Einheitsprozess treffend auf den Punkt)